Rezensionen und Besprechungen

Die Macht der Bilder
Der Erste Weltkrieg als Fernsehereignis
epd medien, 21.8.2004

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Wenn man ein Wort nur oft genug ausspricht, zwischen den Zähnen zerreibt, dann verschwindet sein Sinn, zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem klafft ein Abgrund von Willkür, den wir mühsam wieder zuschütten müssen, wenn wir nicht irre werden wollen.

So konnte es auch dem Zuschauer ergehen, der sich vorgenommen hatte, den Ersten Weltkrieg in diesen Wochen im Fernsehen zu besichtigen. Irgendwann hatte sich der Fernsehweltkrieg als Bildfluss von den Kommentaren aus dem Off emanzipiert und ergoss sich fürchterlich dramatisch ins Heute: Die Verstümmelten, die Krüppel, die Explosionen, die Flammenwerfer, die leblosen Körperreste im Schlamm, die Hungergesichter, der Stacheldraht, die Handgranaten, die Schützengräben, die voranstürmenden Soldatenkörper, die Kanonen, die Gräber.

Es gibt im Medium Fernsehen einen Punkt, an dem ein bestimmtes Maß an Informationen umschlägt in den reinen Mythos, der alle nüchterne Aufklärung in seinen Bann schlägt. Da verliert der Zuschauer die Verbindung zwischen Wort und Bild und im Gedächtnis bleibt ihm ein visuell-emotionales Amalgam, dessen Auswirkungen für seine Zukunft kaum absehbar sind.

Die ungeheure Erfahrungslast
Was bleibt von dieser TV-Archäologie, die etwas ausgräbt, was, zumindest in seinen politischen Folgen nicht einmal vergangen, aber im Alltag des Bürgers vermeintlich keine Rolle mehr spielt? Und kommt uns dieses Gestern in Schwarz-Weiß nun näher durch die kalendergebotene Ausgrabung oder sinkt es danach umso rascher in die Archive zurück?

Das sind Zweifel, die ein Rezensent nicht übermäßig gedeihen lassen sollte, denn gerade er soll doch den Überblick behalten und präzise erkunden, was verdient, in Erinnerung behalten zu werden, oder? Gibt er sich aber ganz dieser Rollenerwartung hin, kann es passieren, dass er sich, im Angesicht der Vielfalt, ebenso vervielfältigt fühlt, mal als Zuschauer, mal als Rezensent, mal als Historiker, mal als historische Geisel, als Nachkomme, mal als Fernsehverächter oder auch als Fernsehfreund, der nur das vom Medium erwartet, was es auch leisten kann.

Ist das nun Relativismus oder Realismus? Vage oder verantwortungsvoll? Solches Fragen, Zweifeln führt unmittelbar zum Thema hin, denn schon die Struktur der fünfteiligen ARD-Dokumentationsreihe "Der erste Weltkrieg" verrät, dass es darum geht, wie man die Kriegszeit möglichst eindrucksvoll und nachhaltig in die Gegenwart transportiert, ohne in der Flut des Materials unterzugehen.

Die Reihe arbeitet sich in erster Linie thematisch an dem Gegenstand ab, auch wenn die Themen wiederum eine Chronologie des Kriegs ergeben. So erzählt die erste Folge "Mythos Tannenberg", wie Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff nach der siegreichen Schlacht von Tannenberg zu nationalen Helden stilisiert werden und wie sich an diese heroischen Biografien kollektive Hoffnungen knüpfen, die auch vier Jahre später noch nicht ganz und gar aufgebraucht sind.

In der letzten Folge "Trauma Versailles" tauchen Hindenburg und Ludendorff dann wieder auf, diesmal als Verbrecher, mit regelrechten Verbrechervisagen, die verbrecherischer als jeder Verbrecher aussehen und die dann den deutschen Politikern das "Verbrechen" der Niederlage in die Schuhe schieben und sie durch die "Legende vom Dolchstoß" als "November-Verbrecher" stigmatisieren.

Hundert Jahre alte Zeitzeugen
Diese beiden Folgen rahmten die Themen "Gashölle Ypern", "Alptraum Verdun" und "Schlachtfeld Heimat" ein, Topoi oder auch Erinnerungsorte also, die Erfahrungen von Generationen wesentlich bestimmt haben. Und das ist auch eine der größten Leistungen dieser Reihe, die sich erst im Querschnitt ergibt, die ungeheure Erfahrungslast dieser Kriegsjahre ausgelotet zu haben, auch durch Interviewpartner, die selbst noch als Soldaten mitgekämpft oder in der Heimat den Krieg und seine Folgen miterlebt und durchlitten hatten.

Diese Augen- und Leibzeugen, die das Authentische eindrucksvoll zur Sprache brachten, waren in der Mehrzahl der Fälle - viele waren über hundert Jahre alt - nicht nur wach, sondern auch erinnerungsstark und als Interviewpartner gut eingesetzt, so wie in "Alptraum Verdun", wo man sich dem erlebten Schrecken einfach nicht entziehen konnte. Wenn der 106 Jahre alte französische Veteran Marcel Savonet sagt: "In Verdun hat es nie aufgehört. Es gab Kämpfe, jeden Tag", dann sind diese lakonischen Sätze furchtbarer als die schrecklichsten Kriegsbilder.

Allerdings gab es auf der Strecke auch "Fehlbesetzungen", so in der letzten Folge "Trauma Versailles", als sich ein Zeuge, Jahrgang 1910, an den Mord an Matthias Erzberger im Jahr 1921 "erinnerte", sich aber eben nicht als historischer Zeitgenosse näherte, sondern Buchwissen preisgab, Angelesenes, das jeder nachgeborene Historiker besser referiert hätte. Da wurde das Prinzip der Zeugenschaft ausgehöhlt.

Besonders gelungen waren die Folgen "Alptraum Verdun", "Schlachtfeld Heimat" und "Trauma Versailles". Gemeinsam war ihnen, dass sie ihre Themen zwar vielschichtig angingen, sich aber nicht im Wust der Möglichkeiten verloren. Wie grauenhaft das "Leben" in den Schützengräben vor Verdun war und welche psychosozialen Folgen es für die Soldaten hatte, wurde wohl selten so nachdrücklich vor Augen geführt wie in "Alptraum Verdun" von Mathias Haentjes und Werner Biermann.

Ratten, Läuse, Kälte, mangelhafte Versorgung, tagelanges Stehen im Schlamm und Regenwasser, immer mit eingezogenem Kopf gehen, immer fürchten müssen, zerrissen, zerschossen, verbrannt oder vergiftet zu werden, die Familien nie wieder sehen zu können, man wundert sich nicht, dass eine Generation innerlich verwüstet wurde, vom Glauben an Gott und den Menschen abfiel und anfällig wurde für einfache Ideologien, Hassbilder und Untergangsprediger.

Selbstvertrauen und Gültigkeitsanspruch
Es wäre gerade auch die Aufgabe des ersten Teils "Mythos Tannenberg" von Susanne Stenner gewesen, solche Erlebniswelten und ihre Verarbeitungsprozesse zusammen zu denken, anschaulich zu machen, doch man hatte den Eindruck, die Autorin sei im Bildmaterial steckengeblieben und habe keine Zeit mehr gefunden, es gedanklich eigenständig zu durchdringen.

Zu oft hörte man im Kommentar Formulierungen, die zu wenig kritische Distanz verrieten. Da wird von "verdienten Kriegshelden" gesprochen, von "jungen Soldaten", die ihre "Feuertaufe" erleben, da "verlieren" die Befehlshaber gleich mehrfach "die Nerven" und Europa gleicht vor dem Attentat von Sarajewo auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger immer noch einem "Pulverfass".
Es wird in dieser Folge zwar viel von Propaganda und Mythos geredet, aber das Reden davon wirkt, als sei es eben diesen Mythen erlegen. Noch im Presseheft findet sich eine vollmundige Werbesprache, die ebenfalls mythenschwanger ist. Die Folge wolle, heißt es da, "die wahre Geschichte der Schlacht von Tannenberg" und die "Realität an der Ostfront jenseits aller Mythen" zeigen.
Glückwunsch zu so viel gesundem Selbstvertrauen, zu so viel tapferem Gültigkeitsanspruch.

Vielleicht wird man durch die sicher imponierende Archivrecherche, eine Leistung, die für alle Folgen gilt, zu einer solchen Sprache verführt. Doch der Quellenreichtum, die Ausbeute an neuen oder selten gesehenen Bildern ersetzt nicht die eigenständige Reflexion des Materials. Grundsätzlich vermisst hat man in diesem Zusammenhang auch ein paar Worte zur Herkunft der Bilder, denn gerade in diesem Fall sind ja bereits die Bilder Geschichte, die oft genug nur zu Propagandazwecken aufgenommen wurden.

Michael Kloft: "Das große Sterben" (Sat.1)
Keine der Folgen griff dieses Thema auf, problematisierte oder lokalisierte das Bildmaterial oder versuchte, es in seinem Einsatz zu begründen. Auch deshalb klafften zwischen den Bildern und dem Geschehen manchmal Abgründe der Willkür auf, wenn man Gesagtes und Gezeigtes nicht mehr zusammenbekam. Da wurde, wie oft, vom Grauen des Kriegs gesprochen und eine liebliche Landschaft gezeigt, weil man unbedingt den Originalschauplatz abfilmen wollte. Oder man zeigte, vor allem in Teil fünf "Trauma Versailles", Verhandlungsorte oder das Quartier der Obersten Heeresleitung. Und was bekam man zu Gesicht? Eine blankgeputzte Gegenwart, musealisierte Hotelkulissen, die nur erzählen, dass die Putzleute seit neunzig Jahren gute Arbeit geleistet haben.

Gerade an solchen Stellen zeigte sich, dass es nicht immer Sinn macht, das Authentische um jeden Preis einfangen zu wollen, und dass historische Orte nicht immer die Historie des Orts verbürgen, sondern oft nur Patina. Wie man Bilder beiläufig und doch wirksam befragen kann, führte Michael Kloft in seiner halbstündigen "Spiegel TV"-Reportage "Das große Sterben - Spurensuche auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges" bei Sat.1 vor. Da heißt es im Kommentar u.a., "ein Sturmangriff, nachgestellt für die Kameras eines Kriegsreporters" oder "ein Stummfilm, nichts ist echt".

Damit wurden die Bilder kontextualisiert und selbst zur Geschichte. Gerne hätte man solche Herkunftsnachweise auch in der ARD-Reihe erlebt, um gegenüber der Macht der Bilder unabhängiger zu sein. Gut gewählt war ebenfalls Klofts Expertin Brigitte Hamann, die die mentale Dimension des Krieges für die Soldaten auslotete, aber auch vor Ort, an den Schauplätzen, das Gewesene anschaulich und verständlich darstellte.

Vom Material überwältigt
Irritiert durfte man von der Folge "Gashölle Ypern" sein, die der Autor Heinrich Billstein zu verantworten hatte. Am 22. April 1915 hatten die Deutschen im flandrischen Ypern erstmals Gas als Waffe eingesetzt. Über 90.000 Soldaten werden in den folgenden Jahren an allen Fronten durch Giftgas sterben, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Militär funktioniert auf allen Seiten. Man fragt sich, welchen Standpunkt der Autor gegenüber der Gas-Waffe einnimmt. Manchmal - das kann doch nicht sein? - fragt man sich, ob er das Gas als technische Innovation würdigt. Und: Wie hat die Weltöffentlichkeit damals reagiert? Wie die deutsche und internationale Wissenschaftsgemeinde?

Darüber erfährt man nichts; und Fritz Haber, der deutsche Chemiker, der als erster Wissenschaftler die Uniform anzieht und federführend den Gaskrieg vorantreibt, erscheint hier beinahe wie ein vaterlandsliebender Mann, der nicht anders kann und nur die besten Absichten hat, nämlich den mörderischen Krieg zu verkürzen. Vielmehr heißt es fast vorwurfsvoll an die Adresse der deutschen Militärs: "Die Generäle haben das Überraschungsmoment der neuen Waffe nicht genutzt." Haber wird mehrfach als "Gaspionier" bezeichnet, so als ob es um eine wissenschaftliche Leistung ginge, die noch heute im Rückblick positiv zu werten wäre.

Und auch von Eva Lewis, der Tochter des Chemikers, hört man kein distanzierendes, kein kritisches Wort über ihren Vater, so als ob Billstein ein zu Unrecht geschmähtes Genie rehabilitieren wolle. Auch wenn er von einer "Wunderwaffe" spricht oder vom "heldenhaften Kampf Mann gegen Mann" - ohne dass man einen distanzierten Standpunkt, ein waches Bewusstsein gegenüber solchen Floskeln bemerkt -, hat man den Eindruck, hier sei einer beim Bewältigen des Materials vom Material überwältigt worden.

Menschen als Gefangene ihrer Epoche
Viel besser bewältigt Billstein seine Aufgabe in dem Begleitbuch zur Fernsehreihe, wo er Haber durchaus als umstrittenen "Helden" präsentiert. Dagegen führte Anne Roerkohl in "Schlachtfeld Heimat" vor, wie man sein Material klug, überschaubar und informativ ausbreitet. Sie verschränkt drei Biografien, die sie durch eine Vielzahl von Dokumenten und Statements eindrucksvoll von der Zeit abheben kann, um die Zeit selbst zu erzählen, um zu zeigen, wie die Menschen Gefangene ihrer Epoche sind.

Wir lernen die Arbeiterfamilie Pöhland kennen, der pazifistisch gesonnene Mann kämpft an der Westfront, während seine Frau die fünfköpfige Familie durchbringen muss. Gegen die skeptische Friedenssehnsucht der Pöhlands stehen die Fotos der Braunschweiger Amateurfotografin Käthe Buchler, die den patriotischen Mut und den Siegeswillen der Menschen feiern wollen und im Laufe des Krieges immer mutloser werden.

Und wir begegnen Anna Nemitz, einer Berliner Sozialdemokratin, die sich für ein sofortiges Kriegsende engagiert und einem Prozess wegen Hochverrats nur knapp entgeht. Diese drei Familiengeschichten illustrieren sehr bewegend, wie sich der Krieg auch in der "Heimat" austobte, ein Krieg, der die Köpfe formieren wollte, der auch die Zivilisten militarisierte und das Zivile an sich auf Jahrzehnte mit nationalistischen und revanchistischen Bildern vergiftete.

Was bleibt von der Flut der Bilder?
Was bleibt von dieser insgesamt überzeugenden Reihe? Was bleibt von dem Furor, der Flut der Bilder zum Ersten Weltkrieg? Man kann Antworten darauf nur sehr vorsichtig geben, muss ihre begrenzte Reichweite einräumen. Aber man konnte sein historisches Bewusstsein schulen, indem man erkannte, wie destabilisierend der Erste Weltkrieg, der erste "totale Krieg" überhaupt für die Welt war und wie sehr er die Geschichte des "kurzen 20. Jahrhunderts" bestimmt hat.

Man fühlt sich animiert, die eigene Familie in diesem Ereignis zu orten und das Ereignis in der und durch die Familie zu begreifen; denn auch wie sich mikroskopische und makroskopische Geschichte bedingen, wurde durch diesen Erzählbogen greifbar. Und das ist vielleicht auch das Geheimnis des Historien-Booms im Fernsehen im Augenblick: Denn das Geschichtsfernsehen nivelliert unterschiedliche Perspektiven, das Trennende, Folgen und divergierende Interessen und beschenkt den Zuschauer mit der Illusion, endlich zu wissen, was da los war in der Weltgeschichte.

Das Fernsehen erlöst die Vergangenheit aus ihrer Ungewissheit. Da greift man doch gerne zu, jetzt, wo die Gegenwart immer undurchsichtiger und spannungsvoller wird und wir noch nicht wissen, welche Geschichte die unsere sein wird. Aber die Geschichte des Ersten Weltkrieges gehört jetzt uns, wenn man dem Fernsehen glauben darf. Wie weit sollte man ihm glauben?

TORSTEN KÖRNER

 



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