Rezensionen und Besprechungen

Vielstimmige Erzählung
Frühjahr 45
epd-medien, 6.2. 2015, Heike Hupertz

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Georg Stefan Troller erzählt vom Ende des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden. Ende April 1945 sind zwei Drittel Deutschlands von den Alliierten befreit. Der Autor und Filmemacher, jüdischer Emigrant aus Wien, kehrt als Angehöriger der amerikanischen Streitkräfte nach Europa zurück. Am 1. Mai 1945 an der Befreiung Münchens beteiligt, gehört er zu denen, die kurze Zeit später Münchner Bürger zur Besichtigung ins KZ Dachau bringen. Bürger, die alle Opfer gewesen sein wollen. „Wo blieb die Nazidiktatur, die wir hätten besiegen sollen?“ Entnazifiziert hatte man sich anscheinend schon selber über Nacht, in neuem altem vorauseilenden Gehorsam. Auch Nürnberg - vollkommen nazifrei. „Nichts mehr da, nur noch Leute, die sich alle selbst bemitleidet haben: Wir haben ja schon alles abgebüßt.“ Die Toten und lebenden Leichen in Dachau sehen für Troller nahezu skurril aus, ihrer Menschenähnlichkeit beraubt. Wie „Wachsfiguren, von einem wahnsinnigen Anatomen ausgestellt.“ Troller berichtet, wie eine zwangsbesichtigende Münchnerin einem Nebenstehenden klagt: „Das hätten sie (die Amerikaner) uns auch nicht antun brauchen.“

München, Berlin, Dresden, Paris, Kopenhagen, Wien, Budapest, Warschau und Norditalien. Die Dokumentation „Frühjahr 45“ schildert die letzten Monate des fünfeinhalb Jahre währenden Zweiten Weltkrieges nicht nur aus europäischer Perspektive, sondern auch aus europäischer Zeitzeugensicht. Während im Osten die Flüchtlingstrecks rollen, auf denen die spätere Schriftstellerin Leonie Ossowski als schwangere Neunzehnjährige vor den Russen flieht, erwartet in Budapest Agnes Heller sehnsüchtig den Einmarsch der Roten Armee. Günter Lamprecht, fünfzehnjährig, erlebt das Kriegsende als Sanitätshelfer im Bunker in Berlin. Ein italienischer Partisan erzählt von der Befreiung Piacenzas. Marcel Viaud ist im französischen Hafen St. Nazaire, der sich noch immer in deutscher Hand befindet, mit Tausenden französischen Zivilisten eingeschlossen. Die Stimmung in Warschau, besonders unter den Anhängern der Londoner Exilregierung, die schon die kommende Diktatur Stalins fürchten, entwirft plastisch der spätere polnische Außenminister Bartoszewski. Ein damaliger russischer Kommandant und eine französische politische Gefangene und KZ-Überlebende geben Auskunft. Traudl Lessing, aus Wien nach Bayern geflüchtet, schildert die Stimmung unter den Großkopferten der Militärführung in Österreich. Der Bruder eines am letzten Kriegstag Dänemarks aus dem Hinterhalt erschossenen Kopenhagener Widerstandskämpfers schildert die Situation in der Hauptstadt.

Alle Zeitzeugen, bei Kriegsende zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre alt, sind heute hoch betagt. Der Lebendigkeit und Farbigkeit ihrer Schilderung tut das keinen Abbruch. Besonders beeindruckt die emotionale Unmittelbarkeit, mit der scheinbar seit Jahrzehnten Vergangenes erinnert und analysiert wird. Ein jeder erzählt hier auf seine Weise. Trollers Bericht ist mit rhetorisch glänzendem Sarkasmus durchtränkt. Die spätere Philosophin Agnes Heller versetzt sich in die Gefühlswelt des Mädchens, dass sie war. Günter Lamprechts Geschichte, beim ersten Hinhören eine Sammlung bemerkenswert zugespitzter Anekdoten, die vor allem die menschlichen Absurditäten zu beleuchten scheinen, macht deutlich, wie nah Schrecken und Hoffnung in diesen letzten Wochen des Untergangs der nationalsozialistischen Herrschaft beieinanderlagen.

Zur Unmittelbarkeit der Darstellung tragen auch die Textzitate bei. Aus den Tagebüchern der verschleppten Zwangsarbeiterin Agnès Humbert, „Notre Guerre“, wird ebenso gelesen wie aus Erich Kästners Kriegstagebuch „Das blaue Buch“. Und obwohl die Bilder, aus vielen verschiedenen europäischen, amerikanischen und kanadischen Archiven sehr veran-schaulichend ausgewählt, den gesprochenen oder gelesenen Text in erster Linie zu beglaubigen scheinen, wirkt der Film insgesamt nicht übermäßig wortlastig.

70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz erscheint die von Mathias Haentjes (Buch und Regie) auch schon in den beiden Vorgängerfilmen „Sommer 39“ und „Winter 42/43“ gewählte kaleidoskopartige, vielperspektivische und vielstimmige Darstellungsform als angemessenes Verfahren. „Die Ereignisse sprechen lassen“, so lautet das Motto. Zu den Ereignissen aber gelangt man über ihre Versprachlichung und Erzählung, die durch Bebilderung abermals veranschaulicht wird. Wo die sogenannte historische Distanz wächst und die Zeugen nach und nach versterben (wie Margarete Mitscherlich, die in einem der anderen Filme der Haentjes-Trilogie Zeugnis ablegt), wird das „Nachfühlen individueller Schicksale“ (Haentjes), ein oft genug unscharfes Puzzle mit Löchern und weißen Flecken, immer wichtiger. Auch der multinationale Ansatz von „14 - Tagebücher des ErstenWeltkriegs“ (epd 21/14) ist im selben Atemzug zu nennen. Ob es sich hier lediglich um eine Mode der historischen Darstellung handelt? Mitnichten. Es geht um eine erweiterte Sichtweise. Obwohl chronologisch erzählt, ist „Frühjahr 45“ keine einfach auf große Teile Europas ausgedehnte Ereignisgeschichte. Der Film ist auch, obwohl vielfach einordnend, keine Analyse. Er ist das Gegenteil von Bewältigung. Beabsichtigt ist so etwas wie ein Zeitsprung. Von den 70 Jahren Frieden, auf die wir in Deutschland zurückblicken können, findet sich hier noch keine Ahnung. Stattdessen Chaos und Hochstimmung, Schrecken und Glück des Augenblicks, Befreiung und neue Gräuel, Übergriffe und Überschwung, Errettung und Untergang. Die Gegenwart, die hier dokumentarfilmisch erzeugt wird, ist natürlich Fiktion. Aber eine, die näher an der Vielgesichtigkeit desAugenblicks der „Stunde Null“ (noch eine Fiktion) kaum sein könnte.

Heike Hupertz

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