Rezensionen und Besprechungen

Ein Mosaik der Erinnerungen
Abschluss einer ambitionierten Trilogie
Münchner Merkur (KNA), 13.1.2015, Tim Slagman

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Den Auftakt des Schwerpunktes macht aber um 20.15 Uhr „Frühjahr 45“ von Mathias Haentjes, der damit seinen sorgfältig recherchierten, ambitionierten Dreiteiler zum Abschluss führt, den er mit „Sommer 39“ begonnen hatte und mit „Winter 42/43“ fortsetzte. Dabei zeichnet er ein umfassendes Bild der letzten Kriegsmonate, zusammengesetzt aus einem reichen Fundus an Archivmaterial, vor allem aber: aus unterschiedlichen Perspektiven von Zeitzeugen. Der große Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller, der in die USA emigrierte und mit der Army zurückkehrte, erzählt ebenso von seinen Erinnerungen wie die Schriftstellerin Leonie Ossowski, die aus Westpreußen vertrieben wurde oder die Philosophin Ágnes Heller, die im Budapester Ghetto eingepfercht war. Annette Chalut kämpfte in der Résistance und wurde nach Ravensbrück verschleppt. Während Valentin Barmin als 19-jähriger Sowjetsoldat Richtung Berlin marschierte, hatte der damalige Hitlerjunge Günter Lamprecht – heute ein bekannter Schauspieler – den Auftrag, die Stadt um jeden Preis zu halten.

Man hört es immer wieder, aber dadurch wird es ja nicht weniger wahr: Allzu viele Möglichkeiten wird es für Dokumentarfilmer nicht mehr geben, derart viele Augenzeugen der Geschehnisse vor der Kamera zu versammeln. Und die Vielzahl an Erfahrungen und Überzeugungen, die Haentjes in seinem Film ineinander flicht, verleihen dieser Chronik eine erzählerische Nüchternheit, die freilich weder mit Gefühllosigkeit noch mit Relativierung zu verwechseln ist. Gegen die Bilder der ausgezehrten Toten aus den Vernichtungslagern kommt ohnehin keine verbale Aussage an.

Zu diesen eindringlichen Archivaufnahmen gesellen sich aber auch immer wieder Details des Kriegsalltags, die weniger bekannt sind – und deren Verhältnis zum gesprochenen Wort dem Film eine gewisse innere Spannung verleiht. Wenn etwa Valentin Barmin davon erzählt, wie die Russen ein deutsches Paar aus einem Keller gezerrt haben und eine Szene in körnigem Schwarz-Weiß genau dies darzustellen scheint, so provoziert dies die Frage, welches Material Haentjes da gefunden und montiert hat. Er lenkt den Blick auf die Arbeit des Dokumentaristen, auf die Schwierigkeiten des Arrangements, ebenso auf die Notwendigkeit, Lücken zu lassen. Hochauflösende Bilder aus der Gegenwart manches Schauplatzes kontrastieren die flimmernden Kameraerinnerungen aus den Archiven. Wir haben keine Wahl, scheint Haentjes zu sagen, als die Geschichte aus den Überlieferungen zusammenzusetzen, die wir noch finden können.

So widersprechen, weniger in ihren Inhalten als vielmehr in den unterschiedlichen Zuständen ihres Materials, die Bilder einander genauso sehr wie die Wörter. Mathias Haentjes hatte offensichtlich kein Interesse, eine geschlossene Erzählung aus seinem Mosaik zu machen. Für einen Historiker wäre das unbefriedigend – als Dokumentarfilmer allerdings reflektiert er so klug wie subtil die Möglichkeiten und die Beschränkungen des Mediums, in und mit dem er arbeitet.

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