Rezensionen und Besprechungen

Die Zeit davor
Sommer 39
epd-medien

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Es war heiß, in diesem Sommer 1939, die Badestrände überfüllt, die Luft hell und klar. „Ich hatte nichts im Kopf als Musik und Mädchen“, erinnert sich der Brite Dennis Norden, damals 17 Jahre alt. Vielen war dieser Vorkriegssommer nicht als Vorkriegssommer bewusst, auch wenn die Zeichen des kommenden Kriegs sich mehrten.Pünktlich zum 50. Jahrestag zeigen erst ARTE, dann der WDR (am 31. August) den Dokumentarfilm über diesen schönen und so markanten Sommer 1939. Es geht darin nicht nur um politische Fakten und Aktionen des

Vorkriegs, sondern auch um subjektive Wahrnehmung, um Lebensgefühl, um den Zeitgeist dieses Jahres. Die Autoren, Mathias Haentjes und Nina Koshofer, konzentrieren sich auf diesen Sommer, beschränken sich aber glücklicherweise nicht darauf.

Sie rekonstruieren die Vorgeschichte des heranreifenden Krieges, das Münchner Abkommen, Hitlers Annexion des Sudetenlands, der Einmarsch in Österreich, die plötzlich von den Nazis forcierte Hasspropaganda gegen Polen wegen des Status von Danzig, dann der katastrophale Hitler-Stalin-Pakt. Die eher legere, die Entwicklung nicht wahrhaben wollende Politik und

Stimmung in Frankreich. Schließlich die fatale Fehleinschätzung der polnischen Armee, Hitlers Kriegsmaschine Widerstand leisten zu können, und auch die Enttäuschung in Polen über das zögerliche Verhalten der Westmächte bis zum Kriegseintritt. Der Film nimmt grundsätzlich eine europäische Perspektive ein und untersucht die Stimmungslage in

mehreren europäischen Ländern. Entsprechend bewegt er sich in schnellem Wechsel auf unterschiedlichen Schauplätzen in einer durchaus die Konzentration des Zuschauers herausfordernden Dramaturgie. Er liefert nicht bloß ein Stimmungsbild, sondern politische Analyse, verbunden mit und manchmal gefiltert durch die subjektive Wahrnehmung der Zeitzeugen, die in diesem politisch so brisanten Jahr ihr gewöhnliches Leben lebten, liebten, arbeiteten, sich vergnügten – und jung waren.

Zeitzeugen sind vor allem Prominente aus der Kultur. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, die sich erinnert, das nazistische Treiben mit einer gewissen Skepsis und Abscheu wahrgenommen zu haben. Der spätere polnische Außenminister Bartosczekwski,

der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der sich an die Stimmung in Warschau erinnert: „Man sehnte sich förmlich nach dem Krieg.“ Die Filmregisseure Andrzej Wajda und Mario Monicelli, die französische Schriftstellerin Madeleine Riffaud und der holländische Schriftsteller Hans Keilson. Dennis Norden, der damals nur an Musik und Mädchen dachte, wurde später einer der bekanntesten TV-Komiker Großbritanniens und der französische Journalist Pierre Daix, der den Sommer 1939 erinnert als den „Sommer, in dem ich Rad gefahren bin“.

Die Erinnerungen sind konkret und anschaulich. Pavel Kohout weiß noch, wie sie damals als Schulkinder lange Passagen in den tschechischen Schulbüchern einschwärzen mussten. Die russische Chemikerin Elena Strum erinnert sich, wie sehr unterschiedlich der Hitler-Stalin-Pakt wahrgenommen wurde, nämlich auch als Versuch Stalins, bis zum unvermeidlichen Krieg mit Nazideutschland noch etwas Zeit zu gewinnen.

Für all dies kommt der Film gänzlich ohne szenische Nachstellungen aus. Er braucht kein Re-Enactment und kann Geschichte und Geschichten sehr wohl allein mit dokumentarischem Material erzählen. Die Autoren haben viel interessante, noch nicht abgenutzte Filmbilder

und Szenen gefunden und setzen das Material klug und interessant ein. Die Bilder haben emotionale Qualität und sie präsentieren Details, die das historische Gesamte erst erinnerbar beleuchten. Zu diesem Sommer gehört nicht nur die Politik Chamberlains, sondern auch, dass in London Gasmasken ausgegeben wurden, mit denen die britischen Jungs ihren Spaß hatten – man konnte damit unanständige Geräusche machen. Dazu  kommen interessante Texte von Zeitzeugen, die dem Kommentar noch eine eigenständige Sprach- und Ausdrucksebene

hinzufügen. Das sind vor allem die höchst aufschlussreichen Berichte des US-orrespondenten

Shirer oder die Tagebücher der damals zehnjährigen Janine Philips, die in Ostpreußen lebte und erstaunliche und genaue Beobachtungen aufschrieb. Der Film, eine geglückte Kombination von politischer Analyse und persönlicher Wahrnehmung, enthält auch die verallgemeinerbare Erkenntnis, dass sich in Krisenzeiten kaum merklich, aber doch von feinsinnigen Zeitgenossen beobachtbar, die Tektonik im kollektiven Verhalten

verschiebt und daraus abgelesen werden kann. Die Bilder und Erzählungen des Films zeigen, wie der Alltag allmählich sich militarisiert, der Marschgleichschritt zu einer alltäglichen Bewegungsform wird und dennoch viele den Krieg noch nicht kommen spüren, der wenige Monate später real wird.

 

Fritz Wolf

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